Textcollage für die Biennale SlovoKult :: literARTour 2020 :: Berlin

Aufgeteilt in drei Sprachen :: DE :: MK :: EN mit Bildern von Dijna Tomik Radevska und Michaela Strumberger :: in der Festival-Anthologie 2020 ::

Anthologie 2020 ::

:: Den ersten Teil des Textes findet man in der Anthologie ::

ENGLISH

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Seit der Veröffentlichung von Testo Junkie sind zehn, fünf, zwei Jahre vergangen. Die kontrollierte Vergiftung hat sich durchs Spanische, Französische, Englische, und schließlich auch ins Deutsche gefressen – eine Krankheit und deren Heilung zugleich.

Seit drei Jahren steht die Ausgabe der Feminist Press in meinem Bücherschrank. Sie hat den Transfer vom Spanischen ins Französische ins Englische geschafft. Doch erst kürzlich hat der Virus einen neuen Wirt erreicht. Schuld sind ein paar Zines aus Belgien. In einer von ihnen bespricht ein junger trans Mann ein Buch über Testosteron, das – laut seiner Rezi – mit keinem Satz auf die Perspektive von trans Menschen eingeht.

Hast du Testo Junkie gelesen? will ich ihn fragen. Und dann fällt mir ein, dass ich es selbst noch immer nicht gelesen habe.

Der Grund, das Buch nun aus dem Schrank zu nehmen, ist also der Anflug eines Crushs auf M., den ich einmal gesehen, auf dem Zine Fest in Berlin, ziemlich am Anfang seiner Transition. Hochgewachsen, schlank, schwarze Röhrenjeans, kurze blonde Haare, dickrandige Brille. Noch kein Bartwuchs.

Mich überrascht dieser Crush, denn generell ziehen mich feminine bis androgyne Menschen an. Feminin, androgyn – was immer man sich darunter vorstellen mag.

Was ist es also bei M.? 

Das Dandyhafte, sage ich spontan zu einer gemeinsamen Freundin.

Sie nickt und lacht.

Michaela Strumberger :: Le pooch ::

Wenn ich M. anschaue, sehe ich frei flottierende Attribute, die sich, wie Bienen oder Schmetterlinge, für kurz oder lang auf seinem Körper niederlassen[1]: Weichheit, Verletzlichkeit, Wärme. Sie haben hier, an und in M., ihre typisch weiblicheKonnotation verloren. Vielleicht, weil M., bewusst oder unbewusst, die Codes einer Twink-, einer Geek-, einer Sissyboy-Ästhetik derart perfekt beherrscht, dass sie seine Geschlechtsidentität keine Sekunde lang in Zweifel ziehen.

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The most beautiful, the most heterosexual, the ones waiting for Prince Charming full of natural testosterone. In seiner Jugend wird Preciado inständig gewarnt vor seinem megalomanen Begehren. Bereits 2005 beginnen die Grenzen zwischen natürlichund unnatürlich zu verwischen. Es ist nicht mehr allzu schwer, an Testogel zu kommen, vorbei an medizinischen, psychotherapeutischen, juristischen Institutionen, vorbei am vorgesehenen Geschlechtsangleichungs-Protokoll.

2019 ist es, beinahe, ein Kinderspiel. Eine unmerkliche, unsichtbare Ansteckung, von Mund zu Mund, Ohr zu Ohr, Haut zu Haut, Papier zu Stift, Epidermis zu Display.

Unkontrollierbar der Schmuggel des Ausatmens, der Import und Export von Dämpfen – 

der leichte Schwindel, die glühende Aura einer Wärmebildkamera. Fühlt es sich so an, wenn der Schuss ins Blut strömt? Verlockend, die eigentümliche Luzidität, die Preciado beschreibt, den Boost an ungeahnter Energie, die nächtlichen Spaziergänge ohne Ziel. Nach nur wenigen Monaten Stimmbruch. Fettumverteilung. Eisenmangel adé. Das eigene Sterben aufzuhalten – auch wenn, statistisch gesehen, auf T die Lebenserwartung um ein paar Jahre sinkt.

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In einer nahen Zukunft hilft das psychedelische Serum zwittriger Weinbergschnecken, die Ungerechtigkeiten der Natur zu überwinden. Eröffnen Körper-Apps mit wenigen Klicks neue Möglichkeiten. So oder ähnlich in Doireann O’Malleys Film-Installation Prototypes.

Großzügige Glasfronten – jenseits üppiges Grün, diesseits glänzende Prospekte, die die Erweckung des wahren, inneren Potentials versprechen – aus dem Off das leise Klirren von Porzellan (wie von deinem Balkon, an einem Sommermorgen), während die Augen lautloser Drohnen liebevoll über Schuhe, Waden, Knie gleiten, berührungslos über Schultern, Nacken, Haare streichen.

Das Samsung-Tastenhandy in meiner Hosentasche vibriert. Wer kommt, den eigenen Tod zu rächen, ist ein böser Geist. Von links streift mich, oder das Relikt in meiner Hand, ein Lächeln. Schon heute schließt mich meine Weigerung, Erweiterungen vorzunehmen, die im Bereich des Machbaren liegen, von vielen Formen der Gemeinschaft aus. Was hält mich davon ab, meiner low-tech Identität eine molekulare Prothese hinzuzufügen, mich auf dem Spielfeld somatischer Fiktionen zu optimieren?

Es geht nicht darum, begehrenswerter zu sein, sagt D. Es geht um Lesbarkeit. Und geht zum Buffet. Ein kategorisches Statement, das nicht recht zur Vielschichtigkeit von Prototypes zu passen scheint. Zur Vision von Geschlecht als Raum, der nur durch das sichtbar wird, was er nicht ist: Wände, Boden und Decke. Das weiße Viereck um ein leeres Feld.

Prototypes ist nicht der einzige Beitrag auf dem Cyfem & Queer Symposium, der sich auf Preciado bezieht. Im Anschluss an die Performance Döner-Blackout or Press Conference: Testo Soap spreche ich kurz mit Göksu Kunak a.k.a Gucci Chunk.

Ze erzählt, vor einer Weile hätte ze überlegt, T zu nehmen, und sich dann dagegen entschieden, weil ze oft zire Familie in der Türkei besucht und das auf T wahrscheinlich nicht mehr möglich wäre.

Was für eine Ironie, bemerke ich, dass ich mich als queerer Mensch in Berlin mehr und mehr unter Druck fühle, T zu nehmen, während G. in der Türkei so viel Druck fühlt, kein T zu nehmen …

G. lacht ein bisschen nervös und sagt: Well I think everybody should do what they want.

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Es ist nicht immer der Abhängige, der die Substanz injiziert.

Tatsächlich ist, in der deutschen Version von Testo Junkie, ein eleganter Glitch passiert: Vollgepumpt mit natürlichem Testosteron sind nun nicht mehr die Märchenprinzen, sondern, per heimlicher Osmose, alle Mädchen, auch die schönsten, die heterosexuellsten.

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Paul, will ich fragen, wann hörte das Experiment auf, Experiment zu sein? Warst du schon immer Paul? Oder ab welchem Moment fingst du an, es zu sein?

Ich denke an G.s Reisen in die Türkei, an Passkontrollen und Sicherheitschecks. Notwendige Zugeständnisse an das Zwei-Geschlechter-System. Aber auch, wie schwer Sucht und Willen miteinander vereinbar sind.

Finge ich an, T zu nehmen, würde ich kein Make-up mehr verwenden, nie mehr Röcke tragen wollen? Würde ich, früher oder später, mein Haar abschneiden? Was würde die durchsichtige, gelatinöse Substanz machen mit meinen Vorstellungen von mir?

Was mich an M. anzog, denk ich im Nachhinein, war jenes Flirren rund um den Point of no return. Das allererste, flüchtige Erhitzen geheimer Tinte. Wenn du zu ahnen beginnst, dass da etwas zwischen den Zeilen steht. Hieroglyphen, von jahrtausendealtem Staub bedeckt; ein unvollständig frei gekratzter Code.


[1] Oder, auch das ist möglich, sich von innen heraus an die Oberfläche fressen und dort flüchtige Blasen werfen.


Ausschnitte aus :: Schimmernder Dunst über Perelín :: Schöner Lesen 141, SuKuLTur, Berlin :: 2015