Aussage::vs::Ausdruck

::02::Vladimir Lukaš::Hanna Hennenkemper
Vladimir Lukaš

Ein kleines Wiegenlied*

Ein Baby ging sich tätowieren lassen. „Ich möchte, dass du mir mein ganzes zukünftiges Leben eintätowierst“, sagte es zum Tattoo-Meister, steckte sich den Schnuller in den Mund und machte es sich gemütlich auf der Tattoo-Bank.

Sie begannen mit der Kindheit. Auf den Babybeinen zeichnete sich bereits das Bild eines Kindes ab, das einem Ball nachläuft, das in den Parkteich fällt, das seine beste Freundin von der ersten Etage herunterschupst, das eingeschult wird, das sich zum ersten Mal prügelt, das sich zum ersten Mal verliebt. Der Meister ging über zum Bauch: höhere Schulklassen, merkwürdige Cliquen, erste Freundin, erste Betrunkenheit, erster Schluss, erster Tod. Der Tattoo-Meister setzte die Geschichte auf den Armen fort, wo man deutlich die Szenen seines zweiten Lebensjahrzehnts sehen konnte: Die ersten Erfolge, die erste wahre Liebe, immer mehr Freude, immer mehr Sterbefälle, immer mehr Verschlossenheit in sich selbst. Jetzt war der Rücken dran. Jeder Farbtropfen dessen, was der Wendepunkt sein sollte, bedeutete für das Baby eine immer größere Last: Arbeit, Heirat, Kinder, Rechnungen, Sich-entlieben, Scheidung, Unterhalt, neue Ehe ohne Liebe, große Wahrheiten, kleine Augenblicke Freude, große Enttäuschungen. Wie das Leben des Babys fortging, so füllte sich sein Körper mit immer traurigeren Bildern: Kriege, fremde Krankheiten, Sterbefälle, eigene Krankheiten. Die Bilder kamen bis zur Stirn: Das Baby, bereits alt und gekrümmt, ging langsam die völlig veränderte kleine Straße aus der Kindheit entlang, kam zu einem riesigen Gebäude, das genau da aufspross, wo sein Geburtshaus war, legte sich auf den Bürgersteig und starb.

Der Tattoo-Meister legte das Werkzeug nieder und fotografierte aufmerksam die Bilder auf dem leblosen Körper des Babys. Danach hob er es hoch, legte es in einen kleinen schwarzen Sarg und brachte es in einen großen Raum mit tausenden identischen Särgen, an deren Wänden Fotos von tausenden unerfüllten Schicksalen klebten.

Aus dem Mazedonischen::Elizabeta Lindner

*Der Titel ist im Original auf Deutsch

 

Hanna Hennenkemper::

Sehnsucht, die sich an unseren Körpern entlang unerfüllt durch die Tage zieht…:: 2013::56 x 76 cm:: Buntstifte auf Papier